kürzlich bin ich auf ein paradox aufmerksam geworden, das sorites-paradox oder auf deutsch paradoxie des haufens genannt wird. die entdeckung hat mich sehr gefreut, da ich mir über genau diese sache schon seit längerem gedanken gemacht habe und nun endlich die bestätigung gefunden habe, dass es sich dabei um ein anerkanntes problem handelt, das sogar einen namen hat. es ist irgendwodurch beruhigend, zu wissen, dass ich nicht der einzige bin, der sich über solche (etwas abstrusen) dinge den kopf zerbricht…

nun, was ist die paradoxie des haufens? es handelt sich dabei um ein problem, das bei der definition vager begriffe auftritt – im prinzip ein philosophisches problem, das aber, da es um eine definitionsfrage geht, auch eine sprachliche dimension hat. die paradoxie ergibt sich dadurch, dass wir in vielen fällen mit sicherheit sagen können, dass etwas ein haufen oder aber kein haufen ist, gleichzeitig aber nicht genau definieren können, was einen haufen ausmacht. man stelle sich etwa eine menge reiskörner vor. wenn es nur wenige sind, ein oder zwei reiskörner, wird man sie nicht als einen haufen bezeichnen, bei über 1000 körnern dagegen schon. aber wo ist die grenze zwischen haufen und nicht-haufen? wieviele körner kann man von den 1000 entfernen, so dass es weiterhin ein haufen bleibt? und ab dem wievielten entfernten korn hört der haufen auf, ein haufen zu sein? darauf gibt es keine klare antwort.

nun könnte man sich natürlich damit behelfen, dass man einfach eine fixe grenze festlegt, zum beispiel bei 50 körnern. ab 50 ist es ein haufen, sonst nicht. damit ist das problem aber natürlich nicht wirklich gelöst, denn man muss zugeben, dass die grenze willkürlich gewählt wurde. es lässt sich nicht begründen, warum 49 körner keinen haufen darstellen sollen, aber 50 schon. die grenze hätte damit genausogut bei 49 gewählt werden können, oder sonstwo. und ist es wirklich einsichtig, anzunehmen, dass ein einzelnes korn den unterschied zwischen einem haufen und einem nicht-haufen ausmachen kann? die allermeisten leute werden wohl von auge eine menge von 49 körnern gar nicht von einer mit 50 unterscheiden können – wieso sollte man dann gerade da die grenze ansetzen? und falls nicht da, wo sonst? wie man sieht, hilft das festsetzen einer willkürlichen grenze nicht wirklich weiter, eine befriedigende definition des haufens zu erreichen.

persönlich habe ich mir das problem jeweils anhand der temperatur des wassers, das aus einem wasserhahn kommt, überlegt. auch bei der wassertemperatur kann man in vielen fällen eindeutig eine einstufung als ‘warm’ oder ‘kalt’ vornehmen. gleichzeitig ist es aber nicht möglich, anzugeben, wo genau die grenze zwischen ‘warm’ und ‘kalt’ liegt. die paradoxie ergibt sich dadurch, dass wir zwischen ‘warm’ und ‘kalt’ unterscheiden können, ohne dass wir diese konzepte genau definieren könnten.

das problem mag vielleicht auf den ersten blick belanglos erscheinen, ist es aber meines erachtens nicht. die einsicht, dass man vage begriffe prinzipiell nicht genau definieren kann, bedeutet, dass wir auch einfache dinge wie warmes oder kaltes wassers nicht exakt beschreiben können, obwohl sie uns intuitiv so leicht verständlich sind. das gleiche gilt natürlich für jeden vagen begriff. da auch etwa ‘schön’ – ‘hässlich’ oder ‘gut’ – ‘böse’ vage sind, und wir in gleicher weise keine grenze zwischen beiden ziehen können, wie können wir dann überhaupt je eine sichere zuordnung zum einen oder anderen machen?

update 7. sept
nachdem ich ein bisschen mehr darüber nachgedacht und auch eine anregende diskussion mit meiner freundin geführt habe, komme ich zur einsicht, dass man die sache als kognitionsproblem angehen muss. man muss also den betrachter berücksichtigen: etwas ist nie in absoluter hinsicht, sondern immer nur im auge eines betrachters ein haufen (oder ein nicht-haufen). hierzu bietet etwa die prototypensemantik einen guten ansatz. vereinfacht gesagt liefern unsere nerven eine menge ‘rohdaten’ an unser hirn, und die aufgabe des hirns ist es dann, die gelieferten werte mentalen konzepten (‘warm’, ‘kalt’) zuzuordnen und mit einer entsprechenden ‘etikette’ (z.b. die wörter warm oder kalt) zu versehen. die werte liegen dabei auf einer graduellen skala, sagen wir zum beispiel von 0 (die tiefste temperatur, die wir mit unserer haptischen wahrnehmung registrieren können) bis 1000 (höchtste wahrnehmbare temperatur). in der prototypensemantik wird nun angenommen, das wir für konzepte wie ‘warm’ oder ‘kalt’ einen bestimmten wert als prototypisch abgespeichert haben. der in einer bestimmten situation von den sinnesorganen gelieferte wert wird dann mit den prototyp-werten auf der skala verglichen. ist er nahe an einem protoyp-wert dran, können wir eine entsprechende zuordnung vornehmen. wenn er aber ungefähr gleich weit von verschiedenen prototyp-werten entfernt ist, befinden wir uns in einer grauzone, die keine eindeutige zuordnung erlaubt.

so weit so gut – aber woher haben wir die prototyp-werte? nun, es sind wohl einfach erfahrungswerte. jeder hat schon so und so viele male entsprechende werte von unseren sinnesorganen geliefert bekommen und hat diese aus dem kontext – etwa weil jemand um uns herum diese als ‘warm’ oder ‘kalt’ bezeichnet hat – als gültige werte für ‘warm’ oder ‘kalt’ registriert. es gibt also eine art trainingsphase, in der wir lernen, bestimmte werte auf der temperaturskala einem mentalen konzept zuzuordnen und mit einem namen zu versehen. dadurch entsteht mit der zeit ein prototyp-wert (oder eher ein prototyp-bereich), der es ermöglicht, neue werte einzuordnen. dazu passt auch, dass verschiedene personen zum teil unterschiedliche zuordnungen von temperaturwerten vornehmen – was für eine person ‘warm’ ist, kann für eine andere person bereits ‘heiss’ sein, umgekehrt ist, was für jene person ‘warm’ ist, für diese vielleicht bereits ‘kalt’. das hängt dann eben (abgesehen von den natürlich nicht identisch funktionierenden sinnesorganen) mit unterschiedlichen erfahrungswerten und demzufolge verschiedenen prototyp-werten zusammen.


temperaturskala

die grafik zeigt, wie aus erfahrungswerten prototyp-bereiche erschlossen und diese dann für die zuordnung neuer werte verwendet werden. die zuordnung zu einem prototyp ist bei den werten 1 (kalt) und 3 (warm) leicht, bei 2, das in der übergangszone liegt, hingegen nicht.

in diesem rahmen wäre also die frage, wie wir etwas eindeutig als ‘warm’ oder ‘kalt’ einstufen können, obwohl wir nicht genau definieren können, wo ‘warm’ anfängt und wo es aufhört, folgendermassen zu beantworten: wir können einen bestimmten temperaturwert eindeutig als ‘warm’ oder ‘kalt’ bezeichnen, wenn er auf der temperaturskala genügend nahe an unserem auf erfahrung basierenden ideal- oder prototyp-wert für ‘warm’ oder ‘kalt’ liegt.