über die bologna-reform kann man geteilter meinung sein – sicherlich hat das neue system sowohl vor- als auch nachteile. in einem bereich scheint mir aber nicht bestreitbar zu sein, dass das neue system einen rückschritt darstellt, nämlich im bereich der studienordnungen, besonders der art und weise, wie das ECTS-punkte-system umgesetzt wurde. hier ist es zu einer enormen aufblähung des systems gekommen, die studienordnungen sind heute sehr kompliziert und unflexibel – und zwar nicht bloss deshalb, weil wir uns wegen der verschiedenen kinderkrankheiten des systems aktuell in einer phase der “dauerreform” befinden und es diverse übergangsregelungen braucht, sondern weil das system in konzeptueller hinsicht zu kompliziert ausgefallen ist. ich erwähne nur dies: die BA/MA-studienordnung des deutschen seminars ist heute 88 Seiten lang, die gesamtausgabe der studienordnung an der philosophischen fakultät der UZH (gültig bis 2010) umfasst unglaubliche 727 seiten! (zum vergleich: die studienordnung meines liz-studienganges, in den ich mich 2001 einschrieb, umfasste 3 seiten; für andere fächer wird es damals ähnlich gewesen sein).
meines erachtens wurden bei der bologna-reform von anfang an gewisse weichen falsch gestellt. und zwar kam das von ganz oben. so wurde an der universität zürich bereits in der richtlinie zur umsetzung der bolognareform des universitätsrates im jahr 2004 gesamtuniversitär vorgeschrieben, dass die studiengänge in module zu gliedern seien und dass die vergabe von ECTS-punkten an die module geknüpft sei – aus meiner sicht beides schlechte entscheide mit schwerwiegenden folgen.
das konzept der module hat man unbedarft aus den naturwissenschafen übernommen. dabei wurde nicht berücksichtigt, dass das geisteswissenschaftliche studium grundsätzlich anders organisiert ist als das naturwissenschaftliche. in den naturwissenschaften sind die stundenpläne grösstenteils vorgegeben, d.h. alle studierenden der studienrichtung X belegen im semester 3 die veranstaltungen B, C und D; es gibt kaum wahlmöglichkeiten. es macht dann sinn, dass man inhaltlich zusammengehörige veranstaltungen in modulen zusammenfasst und gemeinsam abprüft. das geisteswissenschaftliche studium ist demgegenüber davon geprägt, dass studierende ganz individuelle stundenpläne zusammenstellen. jeder hat andere fächerkombinationen, andere schwerpunkte. zudem arbeiten viele teilzeit und müssen sich gewisse wochentage/tageszeiten freihalten. das alles erfordert eine hohe flexibilität. das konzept der module hat hier keinen platz und macht die dinge bloss unnötig kompliziert.
im sinne eines kleinen gedankenexperiments hier also mein gegenentwurf zum aktuell gültigen ECTS-system an der uni zürich.
in meinem system gibt es keine module. ECTS punkte werden grundsätzlich für lehrveranstaltungen vergeben. ECTS punkte können zusätzlich in gewissen fällen für “veranstaltungslose” leistungen angerechnet werden, z.b. für abschlussprüfungen, abschlussarbeiten oder für akzessprüfungen (prüfung von inhalten aus selbstständiger lektüre). gebucht werden immer und ausschliesslich lehrveranstaltungen. für andere leistungen wendet man sich an die zuständigen dozenten und diese kümmern sich um die anrechnung. das macht sinn, weil abschlussarbeiten und -prüfungen sowieso immer mit einer besprechung beim betreuenden dozenten beginnen. jede lehrveranstaltung ist einzeln wiederholbar (das ist im aktuellen system nicht gegeben und führt zu verschiedenen problemen).
es gibt studiengänge, z.b. germanistik oder skandinavistik. bei jeder lehrveranstaltung wird einzeln festgelegt, für welche studiengänge sie angerechnet werden kann. pro lehrveranstaltung können das ein oder mehrere studiengänge sein. so kann eine veranstaltung z.b. für “GERM” (nur germanistik), “GERM, SKAND” (germanistik und skandinavistik), eine dritte für “GERM, SKAND, VGS” (germanistik, skandinavistik, vergleichende germanische sprachwissenschaft) angerechnet werden. dies erlaubt sehr leichtes cross-listing, was den kleinen und interdisziplinären studiengängen zugute kommt. ein studiengang 180 punkte bachelor in VGS besteht dann zum beispiel aus: 160 punkte VGS-lehrveranstaltungen, 10 punkte studium generale und 10 punkte für die abschlussprüfungen.
bei der buchung der lehrveranstaltungen gibt es abhängigkeiten. so kann etwa “hieroglyphenluwisch 2” erst gebucht werden, nachdem “hieroglyphenluwisch 1” besucht wurde. diese vorbedingungen werden von den dozierenden festgelegt, wenn sie eine lehrveranstaltung eingeben: für ein seminar in der germanistik können etwa die vorbedingungen gewählt werden, dass der synchrone grundkurs sowie der phonetik-kurs bereits absolviert sein müssen. auch allgemeine bedingungen können auf diese weise festgelegt werden, etwa “nur MA” bei seminaren. abgesehen von diesen beschränkungen können aus dem angebot zum eigenen studiengang beliebige veranstaltungen – und in beliebiger reihenfolge – gebucht werden.
der studienabschluss wird folgendermassen gehandhabt. für den abschluss ist es zunächst einmal nötig, die erforderliche punktezahl erreicht zu haben. zusätzlich können weitere abschlussbedingungen festgelegt werden. solche abschlussbedingungen können beispielsweise sein: die bedingung, …
… dass gewisse pflichtveranstaltungen besucht worden sind,
… dass mindestens 3 seminare mit seminararbeit belegt,
… oder dass diese bei mindestens zwei verschiedenen dozenten absolviert worden sind.
sowohl die abhängigkeiten als auch die abschlussbedingungen werden im buchungstool als restriktionen einprogrammiert, so dass die studis bei der modulbuchung entsprechend “geleitet” werden und jederzeit sehen, welche veranstaltungen für sie buchbar sind, welche bedingungen sie schon erfüllt haben und was bis zum studienabschluss noch zu tun ist.
mit diesen wenigen eckpunkten ist meines erachtens schon alles gegeben, was man für die einführung von ECTS-punkten und für die entsprechenden studienordnungen benötigt. bestimmt ist das hier beschriebene system auch nicht ohne fehler. gut möglich, dass sich im praxistest noch einige komplikationen ergeben würden. ich wage aber zu behaupten, dass man mit diesem system, das dem alten liz-system nahe steht, eine flexiblere, logischere, und vor allem deutlich einfachere lösung gehabt hätte, als was wir jetzt haben.