wenn man sich die vorwörter zu lehrbüchern toter sprachen anschaut, z.b. von griechisch- oder latein-lehrbüchern, dann schreiben die autoren dort meistens stolz, dass sie “schon ab der 5. lektion ausschliesslich originaltexte” verwenden würden, oder so etwas in der art. dies streichen sie meistens als vorteil hervor, da sie – so die implizite stellungsnahme – originaltexte in jedem fall für besser halten als kunsttexte.
dies ist insofern nachvollziehbar, als heute keine muttersprachlichen altgriechisch- oder latein-sprecher mehr leben, die mit absoluter sicherheit die grammatische und stilistische richtigkeit von neukompositionen bestätigen könnten. doch bedeutet dies wirklich, dass deshalb originaltexte im schulischen/studentischen lernkontext in jedem fall gegenüber kunsttexten vorzuziehen sind? ich würde das nicht automatisch bejahen, und finde, dass es durchaus auch einige argumente für kunsttexte gibt.
zunächst bedeutet das klammern an originaltexte nämlich einmal, dass der lernende fortlaufend mit texten konfrontiert wird, die eigentlich noch zu schwierig für sein niveau sind. dies führt dazu, dass der lernende oft an texten sitzt, bei denen er praktisch jedes einzelne wort bzw. jede einzelne form nachschlagen muss. der effekt: die lektüre kommt nur sehr schleppend voran und der lernende wird rasch frustriert. das stundenlange herumknobeln an schwierigen sätzen müsste in meinen augen jedoch nicht sein: es ist ineffizient und frustrierend. im gegensatz dazu kann mit kunsttexten erreicht werden, dass der lernende zu jedem zeitpunkt einen genau auf sein niveau zugeschnittenen text erhält, der zwar einiges neue beinhaltet, aber jeweils nur gerade soviel, dass es vom lerner noch einigermassen flüssig gelesen werden kann. damit kann die motivation hoch gehalten werden und das lernen erfolgt leichter. ein weiterer vorteil ist, dass die texte an die grammatikthemen der einzelnen lektionen angepasst werden können (z.B. ein text mit vielen konjunktiven zur lektion, wo der konjunktiv eingeführt wird).
die lehrbücher versuchen normalerweise, die (zu) grosse schwierigkeit von originaltexten damit zu kompensieren, dass sie die texte mit ausführlichen glossen versehen. so ist es durchaus möglich, dass stellenweise bis zu der hälfte der wörter/formen marginal oder in fussnoten erklärt/übersetzt werden. damit ist dem lernenden aber m.e. auch nicht wirklich geholfen, und er ist nach meiner erfahrung sogar dazu verleitet, aus den vielen übersetzten einzelwörtern einen sinn “zusammenzubasteln”, ohne den originaltext richtig verstanden zu haben.
nach meiner meinung kann es didaktisch gesehen erfolgsversprechender sein, anfangs mit vielen leichten texten zu arbeiten, anstatt die lernenden sich von anfang an die zähne an schwierigen originaltexten ausbeissen zu lassen. aufeinander abgestimmte neukompositionen eignen sich in diesem zusammenhang ausgezeichnet, da die menge an neuem lexikalischen material und auch an neuer grammatik kontrolliert verabreicht werden kann, so dass der lernende kontinuierlich dazu lernt, ohne überfordert zu sein.
ich glaube ferner, dass auch grammatikformen und neues vokabular am einfachsten über die textlektüre aufgenommen werden, was durch die bereitstellung von vielen, leichten kunsttexten unterstützt werden kann. die klassische vokabel-lernmethode mit karteikarten hat nämlich den gravierenden nachteil, dass einzelne wörter ohne kontext gelernt werden. doch gerade der kontext, in dem ein wort verwendet wird, spielt für dessen bedeutung eine grosse rolle (wittgenstein: “die bedeutung eines wortes ist sein gebrauch in der sprache”). dieses problem umschifft man elegant, wenn man die wörter anhand ihres auftretens in einem text erlernt. gleiches gilt für das erlernen von grammatischen formen. ich bin der ansicht, dass sich die formen viel leichter einprägen, wenn man ihnen in einem text begegnet, als wenn man stur paradigmen auswendig lernt. daraus ergibt sich ausserdem automatisch der positive effekt, dass häufige formen früher gelernt werden als seltene – beim paradigmenlernen lernt man jedoch alle formen – ob selten oder geläufig – gleich prioritär.
ein nachteil von kunsttexten ist offensichtlich ihre nicht bis ins letzte detail garantierte verifizierbarkeit. doch glaube ich, dass dies in einem kontext eines lehrbuches für neulerner (erstes jahr griechisch, o.ä.) keine wesentliche rolle spielt. ich bin ohne weiteres bereit zu glauben, dass leute, die sich seit vielen jahren auf akademischem niveau mit einer bestimmten toten sprache auseinander gesetzt haben, diese so gut beherrschen können, dass sie in der lage sind, verlässliche kunsttexte zu produzieren. zwar werden wohl besonders was die stilistik angeht gewisse zweifel bleiben, doch sind diese im genannten zusammenhang m.e. vernachlässigbar.
zusammenfassend noch einmal vor- und nachteile von kunsttexten in lehrmitteln toter sprachen:
- nachteil: nicht 100% verifizierbar
- vorteil: texte können perfekt dem niveau des lernenden angepasst werden -> höhere motivation, effizienteres lernen
- vorteil: da es sich um leichte(re) texte handelt, kann insgesamt mehr text gelesen werden
- vorteil: texte können an das grammatische thema der lektion angepasst werden
- vorteil: vokabular kann eher als bei originaltexten via textlektüre (d.h. im kontext) gelernt werden
- vorteil: neue grammatische formen können eher als bei originaltexten via textlektüre (d.h. im kontext) gelernt werden
Moritura
Stenzlers Einführung ins Sanskrit ist mE der beste Beweis dafür, dass es auch mit Originaltexten geht – und gerade Griechisch + Latein haben einen genügend großen Korpus, um entsprechende Sätze zu finden.